Tim-Oliver MüllerHDB
 | Interview & Meinung

"Gesamten Bauprozess konsequent digitalisieren" 

Der Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Tim Oliver Müller, im Interview.

Die Digitalisierung ist eine der großen Herausforderungen für die Baubranche. Gleichzeitig werden in sie große Hoffnungen gesetzt. bSD+ sprach mit Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer der Bauindustrie, über Chancen und Hürden der Digitalisierung sowie über deren Auswirkungen auf andere Megathemen unserer Zeit.

Herr Müller, welche Vorteile sehen Sie im Einsatz von digitalen Technologien in der Wertschöpfungskette Bau?
Entlang der Wertschöpfungskette von der Planung über die Bauausführung bis hin zu Betrieb und Recycling sind eine Vielzahl von Akteuren in unterschiedlichen Phasen im Lebenszyklus eines Bauwerks beteiligt. Es ist das erklärte Ziel der Bauindustrie, den gesamten Bauprozess konsequent zu digitalisieren.

Welche Rolle spielt die Methode Building Information Modeling dabei?
BIM ist ein wesentlicher Bestandteil. Hier arbeiten verschiedene Akteure gemeinsam auf ein Ziel hin: Ein optimales Bauwerk. Allen beteiligten Akteuren werden in den unterschiedlichen Phasen die jeweils erforderlichen Informationen zum Projekt in Form von Daten zur Verfügung gestellt. Bedeutet: Bauherren, Planern und Baufirmen liegen dieselben Informationen vor. Das ist für alle Beteiligten ein großer Vorteil. 

Kollaboration ist also ein wesentlicher Aspekt der BIM-Methode?
Es muss gelingen, eine echte Kooperation zwischen Bauherren, Planern und Baufirmen zu realisieren – mit dem Ziel, ein Bauprojekt in einer bestimmten Zeit und mit einem bestimmten Budget fertigzustellen. So liefert BIM den erhofften Mehrwert und weitere Vorteile, etwa eine bessere Einschätzung der Auswirkungen von planerischen Änderungen auf Zeit und Budget.

Den größten Nachholbedarf gibt es derzeit bei der Anwendung, denn BIM wird derzeit nur in der Planung angewandt. In der Praxis, also auf der Baustelle, findet BIM nicht statt. 

Trotz dieser Vorteile: So richtig voran kommt die Digitalisierung derzeit noch nicht.
Den größten Nachholbedarf gibt es derzeit bei der Anwendung, denn BIM wird derzeit nur in der Planung angewandt. In der Praxis, also auf der Baustelle, findet BIM nicht statt. Ähnlich sieht es beim Betrieb von Bauwerken aus. Ebenso findet nach wie vor keine digitale Übergabe von Daten statt. In diesen Bereichen liegt aber die größte Effizienzsteigerung. Das muss sich ändern. Die Bauausführer müssen im Sinne des kollaborativen Ansatzes von BIM an der Planung beteiligt werden. Wir müssen also das „Silo-Denken“ auflösen, um mit BIM erfolgreich eine neue Form der „vernetzten“ Zusammenarbeit zu etablieren. Erst dann kann BIM erfolgreich sein und der erhoffte Mehrwert für Bauherren und Bauunternehmen entsteht.

Die Digitalisierung ist also keine Kür, sondern vielmehr Pflicht?
Bauprojekte werden in Zukunft immer komplexer. So sind immer mehr Akteure in verschieden Phasen beteiligt. Diese Entwicklung lässt sich mit der herkömmlichen Vorgehensweise am Bau, also der Trennung von Planung und Bau sowie der strikten Fach- und Teillosvergabe, nicht mehr effektiv bewältigen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Fachkräftemangel. Die gestiegenen Anforderungen kann die Branche nicht mit mehr Personal allein bewältigen. Daher muss zwangsläufig die Produktivität gesteigert werden. Hier kann die Digitalisierung unter den richtigen Voraussetzungen der entscheidende Produktivitätstreiber sein – wenn es uns gelingt, neue kooperative Formen der Zusammenarbeit zu implementieren und effektiv zu organisieren. Das bedeutet, über wenige Schnittstellen effektiv Daten auszutauschen und somit Fehler und Streitigkeiten zu minimieren und einen besseren Bauablauf zu ermöglichen. Die Einführung digitaler Arbeitsweisen wird zudem die Attraktivität der Branche als Arbeitgeber deutlich steigern. Durch die Digitalisierung muss es gelingen, alle Partner – vor allem die Bauunternehmen – bereits in der Planungsphase von Projekten besser mit einzubeziehen, um die Vorteile der kooperativen Zusammenarbeit auch nutzbar zu machen und somit ein optimales Bauwerk planen zu können. Das ist vor allem im Hinblick auf die Umsetzung ambitionierter Klimaziele unverzichtbar, weil so knappe Ressourcen optimal eingesetzt und unnötiger Abfall vermieden werden können.

Damit bedient die Digitalisierung die großen Herausforderungen.
Die Digitalisierung wirkt im übertragenen Sinne als ein Katalysator für die drei Megathemen der Branche: Produktivitätssteigerung durch Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Fachkräftegewinnung. Um die Herausforderungen zu meistern und die Bauunternehmen auch in Zukunft auf ein solides Fundament zu stellen, reicht es nicht, analoge Prozesse in die digitale Welt zu übertragen. Vielmehr muss sich das viel beschworene Mindset ändern. Neue Formen der kooperativen Zusammenarbeit mit alten und neuen Akteuren auf Basis vertraglicher Vereinbarungen sowie die konsequente Anwendung innovativer Verfahren und Prozesse sind der Schlüssel für die erfolgreiche digitale Transformation der Bauindustrie.


Tim-Oliver Müller
Tim-Oliver Müller studierte in Berlin strategisches Management mit der Spezialisierung auf Vertrags-, Risiko- und Netzwerkmanagement. Nach seinem Studium war er ab 2011 in unterschiedlichen Positionen im Hauptverband der Deutschen Bauindustrie tätig, auch als Leiter des Geschäftsbereichs Wirtschaft, Recht und Digitalisierung. Anfang 2020 wechselte er zu VINCI in Deutschland und sammelte als Leiter Business Development weitreichende Praxiserfahrungen in einem Mitgliedsunternehmen. Am 1. Juli 2021 wurde er zum Hautgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie berufen.